KINDL Berlin, 2016 (photo Andrea Rossetti)
EIN RIESE, DER SCHLÄFT: Ein Gespräch zwischen David Claerbout und Andreas Fiedler
Fiedler, Andreas (ed.), 'David Claerbout. OLYMPIA (The Real-Time Disintegration of the Berlin Olympic Stadiumover the Course of a Thousand Years)', Berlin: KINDL/Sternberg Press, 2017, exh. cat. (ill.)
David, erinnerst du dich an deinen ersten Besuch des Berliner Olympiastadions?
Ich glaube, mein erster Besuch muss 2002 gewesen sein. Im Laufe der Jahre habe ich das Olympiastadion dann regelmäßig besucht. Im Rahmen der Umgestaltung für die Fußball-WM 2006 wurde ein Dach installiert, das der Architektur etwas von ihrer Radikalität nimmt. Die neue Konstruktion schwebt wie ein großer Flügel über dem Stadion. Diese zeitgemäße architektonische Ergänzung sorgt für einen ziemlichen Unterschied. Zum ersten Mal ist mir das 2009 aufgefallen, und ich wusste von diesem Moment an, dass ich mein Olympiastadion so gestalten wollte, wie ich es vor diesem Eingriff in Erinnerung hatte.
Wie muss man sich den Ideenfindungsprozess für ein so umfassendes Projekt wie Olympia vorstellen?
Wenn ich einen Einfall habe, steht die Welt normalerweise eine halbe Stunde lang still, und ich kann mich auf nichts anderes konzentrieren. Wenn mir Ideen kommen, dann sind diese bereits fertig und abgeschlossen. Ich brauche gar nichts zu machen: Sie werden als Ganzes geboren. Natürlich müssen sie sich noch entwickeln und Form annehmen. Man muss die Idee quasi aus der Erde graben und sie physisch in Form bringen. Das dauert dann Jahre.
Und wann wurde die Idee konkreter?
Wie gesagt, nicht ich habe mir die Idee ausgesucht. Sondern die Idee hat mich gewählt. Eines der Mysterien bezüglich der Geburt von Ideen ist, dass man sie nicht einfangen kann, sondern sie zu einem kommen. Ich hatte also gar keine andere Wahl, als mit der Arbeit anzufangen. Ich muss aber zugeben: Als mir die grundlegende Idee kam, da sagte ich zu mir selbst und zum Team in meinem Studio: „Keine Sorge, Leute, es wird noch lange dauern, bis wir wirklich damit anfangen.“ Ich hätte nie geglaubt, dass ich diese Arbeit verwirklichen würde, zumindest nicht so bald, doch dann kamst du und hast mir die Räume im KINDL gezeigt, und mir wurde klar, dass dies die einmalige Gelegenheit für uns war, mit der Arbeit an Olympia anzufangen. Dies vor allem auch, weil du vorgeschlagen hast, dass die Arbeit fast während eines ganzen Jahres gezeigt werden soll.
Kannst du die Arbeit Olympia (The Real-Time Disintegration into Ruins of the Berlin Olympic Stadium over the Course of a Thousand Years) ganz knapp erläutern?
Es handelt sich um eine monumentale Doppelprojektion, welche in Echtzeit den Verfall des Stadions in eine Ruine zeigt – und zwar einen Zerfall ausschließlich durch den Einfluss der Natur. Bei der großen Projektion handelt es sich um eine elliptische Kamerafahrt um die Hauptarena herum, während die zweite, vertikale und deutlich kleinere Projektion auf Details fokussiert, dies ebenfalls in Echtzeit. Das Programm läuft Tag und Nacht, jahrein, jahraus, und ist dabei denselben natürlichen Wetterbedingungen ausgesetzt wie das reale Stadion in Berlin. Diese Wetterdaten werden in Echtzeit heruntergeladen. Mein Studio programmiert und konstruiert die ersten 25 Jahre, dann wird ein anderes Studio übernehmen müssen. Aber ich und mein Studio übernehmen die Verantwortung für die ersten 25 Jahre.
Olympia ist ein komplexes Projekt. Wie sah der technische Entwicklungsprozess aus, und welche Probleme stellten sich für dich und dein Studio?
Eigentlich hätte ich gedacht, dass der bildliche Teil der schwierigste werden würde, also der Bau des Stadions in virtueller Realität, aber das stellte sich im Verlauf des Sommers 2015 eher als eine Angelegenheit von Geduld und ein wenig Disziplin heraus. Ich hatte das Glück, von meinem Team jede Menge Hilfe zu erhalten. Jasper Janssens und einige unserer Assistenten übernahmen diesen Teil des Projekts – die Architektur – und sie sind mit großer Präzision vorgegangen. Das Ergebnis übertraf all meine Erwartungen. Wir haben im Prinzip das komplette Stadion auf den Punkt gebracht, eigentlich auf seine Essenz. Aber das größte Problem ist und bleibt, das Wachstum der Vegetation richtig einzuschätzen und zu analysieren. Also Fragen wie: Welche Pflanzen gibt es? Wie entwickeln sie sich? Welche Auswirkungen haben diese Pflanzen in den kommenden Jahrzehnten auf das Gebäude? Ich hatte mir vorgestellt, dass wir in der Lage wären, bei- spielsweise das Wachstums der Pflanzen für die nächsten 25 Jahre voraussagen zu können, und dann nochmals für weitere tausend Jahre, aber das stellte sich als unmöglich heraus. Angesichts des immensen Wachstums und des Einflusses der Jahreszeiten auf die Vegetation muss so viel getan werden; wenn die Vegetation nicht zurückgeschnitten oder ausgedünnt wird, ändert sich das, was man am Olympiastadion zu sehen bekommt, auf dramatische Weise.
Du musstest mit vielen Spezialisten kooperieren, nicht nur mit Computerspezialisten hinsichtlich technischer Umsetzungen, sondern etwa auch mit Biologen, Botanikern und Architekten. Welche Aspekte waren dir im Gespräch mit den Experten besonders wichtig?
Ich wollte nicht wie ein Idiot wirken, beispielsweise als es um die Vegetation ging. Schnell wurde klar, dass es beim Prozess, innerhalb dessen die Vegetation die Architektur erobert, vor allem um das Wachstum der Bäume gehen würde. Das Stadion wird letztlich von Bäumen zerstört. Ich wollte genau wissen, von welchen Bäumen, wie schnell sie wachsen, und bislang ist das noch immer die Schwachstelle unseres Projekts: Wir wissen nicht genug. Ich hoffe, nach ein paar Jahrzehnten mit Olympia wird sich da eine Kultur entwickeln und es wird Kommentare dazu geben, wie dieser Zerfallsprozess wahrscheinlich ablaufen wird.
Bei einer Arbeit, die auf tausend Jahre hin angelegt ist, kommen wohl alle an die Grenzen der Vorstellungskraft. Da gibt es keine Gewissheiten mehr. Wie bist du in den Gesprächen mit den Spezialisten damit umgegangen?
Zunächst einmal veranschaulichten die Biologen, um was für ein verrücktes Projekt es sich im Hinblick auf die verschiedenen Parameter hier handelt. Ich musste ja radikale Parameter anwenden, wie z. B. das Verschwinden der Menschheit. Das sind wirklich radikale Parameter, die de facto eine große Ähnlichkeit zum Dritten Reich aufweisen. Das Verschwinden ganzer Gruppen der menschlichen Rasse war in der radikalen Moderne keine ungewöhnliche Vorstellung. Mir wurde also klar, dass ich im Gegenzug etwas Ähnliches mit Dingen anstellen musste, die ich ursprünglich für äußerst normal gehalten hatte. Sls würde das Leben einfach weitergehen. Aber das Leben geht nicht einfach weiter. Das Leben ist hochgradig organisiert.
Und viele Dinge lassen sich wohl gar nicht planen.
Es gibt Einflüsse, die grundsätzlich kaum vorherzusehen sind, so etwa die Auswirkungen der globalen Erderwärmung in den kommenden hundert Jahren oder die Folgen der Umweltverschmutzung. Aber es gab und gibt auch unerwartet einfache oder befriedigende Prozesse. Diese hängen oft mit dem Computerprogramm selbst zusammen. Wir verwenden ein Computerprogramm, oder nennen wir es eine Architektur, die für diese Art von Arbeit eigentlich gar nicht vorgesehen ist. Die von uns genutzte Softwarearchitektur ist für Spieleentwickler designt, nicht aber für eine extrem präzise und hochaufgelöste Darstellung von Wetter und Licht, Jahreszeiten und Vegetation. Das ist also durchaus eine Herausforderung. Doch ganz am Anfang, im März 2016, als es mit der Arbeit sozusagen losgegangen war, machte mir die Software ein unerwartetes Geschenk. Nämlich das, was das Licht mit dem Gebäude machte. Ich war in der Lage, das Olympiastadion zu beobachten, wie es vor Ort sonst nicht möglich ist, einfach deshalb, weil es im Sommer um fünf Uhr morgens noch gar nicht geöffnet ist. Ich glaube, noch nicht einmal das Wachpersonal erlebt vor Ort den Beginn und das Ende des Tages während der unterschiedlichen Jahreszeiten.
Und dank der Software lassen sich möglicherweise ja auch neue Dinge entdecken.
Eindeutig – ich glaube, wir können behaupten, eine architektonische Absicht entdeckt zu haben, die meines Wissens bislang noch nicht festgehalten wurde: Es ist die Tatsache, dass sich mit den wechselnden Jahreszeiten im gesamten Gebäude der Lichteffekt radikal verändert. Ich bin überzeugt davon, dass bisher noch niemand das Phänomen wahrgenommen hat, auf welche Weise im Spätsommer die letzten Sonnenstrahlen die Athleten, also die Skulpturen von Karl Albiker, berühren.
Nun nochmals zurück zur Grundkonzeption der Arbeit. Warum gibt es zwei Projektionen?
Ich hatte mir Olympia als sehr kleinteiligen Ort vorgestellt, an dem die Besucher die Details entdecken können. Das Gras beim Wachsen beobachten, mit eigenen Augen sehen, wie sich der Frühling entfaltet oder der Schnee fällt. Ein einzelner Bildschirm, auf dem konstant die Umrundung des Stadions zu sehen ist, war irgendwie nicht aus- reichend. Dann kam mir die Idee eines zweiten, vertikalen Bildschirms, der mit einer kleineren Auswahl von Details genau das Gegenteil des ersten Bildschirms zeigt: Details des Bodens, den Schotter, das Gras, die Vegetation, Wurzeln, Schmutz. Im Gegensatz zur Bewegung des ersten Bildschirms ist hier alles sehr ruhig.
Das Stadion ist der Zeit, der Natur und damit dem Zerfall überlassen. Konsequenterweise sind Menschen nicht existent. Es gibt aber auch keine akustische Ebene. Weshalb hast du dich dafür entschieden, bei der Arbeit ganz auf Klang zu verzichten?
Das ist eine interessante Frage – als wir uns anfangs über das Projekt unterhalten haben, stellte ich mir noch Klänge vor, nicht wahr?
Ja genau, bei unserer ersten Diskussion vor knapp zwei Jahren haben wir noch darüber gesprochen.
Ich hatte die Vorstellung von einem Echtzeit-Soundsystem für die vertikale Projektion. Dafür hätte ich Vögel ent- wickeln müssen, die morgens aufwachen, im Winter in den Süden ziehen und im nächsten Frühling zurückkommen. Du kannst dir ja vorstellen, dass dies mit Komplikationen verbunden war, die mich darüber nachdenken ließen, ob mein Ansatz nicht ein bisschen zu barock werden würde und für die Arbeit auch gar keine Bereicherung wäre.
Ich stellte mir die Frage, was Echtzeit denn überhaupt sei: Echtzeit ist der Vergleich eines elektronischen Fensters mit deiner eigenen, erlebten Erfahrung. Mir wurde langsam klar, dass sich Echtzeit im Grunde äußerst effizient auf stumme Weise vollzieht, und dass die akustische Ebene für Olympia keine Hilfe sein würde, eher im Gegenteil. Die Geräusche der Menschen, die den Ort besuchen, sind eine viel bessere Klangkulisse. Sie treten ein, schließen die Tür, bewegen sich im Raum oder setzen sich auf die großen Kissen.
Die Stille zeichnet sich ja auch durch ihre Zeitlosigkeit aus.
Durchaus – und ich fand Klänge plötzlich auch aufdringlich, genau wie ich diese Headsets im Museum noch nie mochte, die einem erklären, was man gerade betrachtet. Stattdessen sollte man dort die Stille der Vergangenheit genießen. Ein Nebeneffekt beim Betrachten von Fotos ist, dass das Ding, also das Foto, nicht spricht. Die Stille wurde für mich bei Olympia sehr wichtig: Die Tatsache, dass es sich um einen großen Grabstein handeln würde, der nicht spricht. Die Stummheit ist eine Variation von Echtzeit.
Beim Betrachten von Olympia wird einem deutlich vor Augen geführt, wie sehr dieses für die Olympischen Spiele 1936 gebaute Stadion auf Überwältigung abzielt. Diese Architektur ist nicht für den Menschen gemacht, sondern für die Masse.
Diese Art von Architektur existiert heute nicht mehr und spricht eine radikal andere formale Sprache. Sie spricht die Sprache der Armee, die Sprache der Nation und der Einheit. Das Konzept von Nation und Einheit ist seit der Auflösung des kommunistischen Ostblocks fast schon ein Tabu. Das Individuum ist König. Wir leben in einer Kultur, in der das Individuum unantastbar ist, man könnte sagen, in der das Individuum selbst der dominante ideologische Rahmen ist: Ich bin der Konsument, ich bin wichtiger als mein Nachbar, und sollte etwas passieren, werde ich mich zuerst in Sicherheit bringen. Doch wenn man mal rund 80 Jahre zurückdenkt – damals benötigte die rapide Kristallisation und Fokussierung auf den Begriff der Nation eine Kultur des Visuellen, die sich ganz um die Einheit drehte, in der das Individuum auf ganz natürliche Weise seine individuelle Identität für das Gemeinwohl opfert.
Und was genau meinst du mit „Sprache der Armee“?
Das Olympiastadion ist wirklich wie eine Armee gebaut. Formal und strukturell folgt es der Logik einer Armee. Man kann unterschiedliche Steinoberflächen innerhalb des Bauwerks erkennen, und vielleicht hast du bemerkt, dass die Steine eine besondere Größe haben. Es sind keine Backsteine. Es handelt sich um Steine, die ihre eigene Präsenz haben, massive Steine. Oder zumindest sehen sie massiv aus, obwohl sie oftmals eine Stahlstruktur verbergen. Die Steine verhalten sich wie Gesichter von Soldaten, die gemeinsam eine überwältigende Einheit repräsentieren: eine Armee. Dies wird in der nationalistischen Architektur als idealer Schutz dargestellt. Zudem hat das Stadion selbst eine verwirrende Wirkung auf den Betrachter. Man verliert leicht die Orientierung, weil alle Richtungen identisch aussehen. Ich habe es oft, rhythmisch betrachtet, mit Techno-Musik verglichen.
Mit Techno-Musik…?
Ja, es gibt keinen Anfang und kein Ende. Die Architektur des Stadions ist schleifenförmig, mit ungefähr 180 nahe zu identischen Säulen. Strukturell hat das Gebäude zwei echte Fassaden. Es gibt das Dekor, das Ding drumherum, das für das Stadion kaum notwendig ist, und dann gibt es das Stadion selbst, das sich de facto unter der Erde befindet, also ausgegraben wurde. Eine Methode, die seit Jahrtausenden bekannt ist: Man gräbt öffentliche Orte aus, die Platz bieten müssen für Tausende von Men- schen. Das Geniale daran ist meiner Meinung nach, dass man sich gar nicht bewusst ist darüber, nach unten zu blicken, wenn man das Stadion betrachtet. Man hat das Gefühl, über dem Boden zu stehen, also viel höher zu sein, als man eigentlich ist. Sobald man ins Stadion blickt, vergisst man, dass man eigentlich in die Erde hineinguckt.
In deinem gesamten künstlerischen Schaffen sind Zeit und Dauer von zentraler Bedeutung. Was interessiert dich daran besonders?
Ich stamme aus den 1990er Jahren, der MTV-Generation, die aufgewachsen ist mit Videoclips, die hintereinan- der abgespielt werden. Nur vier Minuten - und dann erhält der nächste seine Chance. Kurz danach kam die Ge- neration der jungen britischen Künstler, die genau dies mit ihrer Kunst machten: Im Prinzip führten sie MTV- Clips auf, nur eben auf der Bühne der zeitgenössischen Kunst. Sie machten also Kunst mit großer Wirkung, die zugleich schnell wieder vergessen war. Und viereinhalb Minuten, die Dauer eines Videoclips, sind heute schon fast eine Ewigkeit, es hat sich also eine Menge verändert. Ich glaube, dass ich mir als junger, suchender Künstler absolut im Klaren war über diesen schnellen Recyclingprozess künstlerischer Zitate, im Prinzip ein postmoderner Effekt. Kurze Zeit später wuchs in mir ein Gefühl des Zeitmangels, eine chronische Panik, zu wenig davon zu haben. Daraus musste ich ein Thema machen. Wenn es eine Kultur der zeitlichen Effizienz gibt, dann muss es gewiss auch irgendwo eine versteckt schlummernde Kultur des zeitlichen Überflusses geben, die wir jetzt vielleicht als Zeit vor der Erfindung der Uhr beschreiben würden. Dauer sollte in meiner Arbeit aber niemals ein moralischer oder ethischer Begriff sein.
Und wohl auch kein nostalgischer?
Auf keinen Fall – ich widerspreche jener Form der Nostalgie, die manchmal meiner Verwendung von Zeit zugeschrieben wird, denn für mich ist sie viel energetischer, als Nostalgie jemals sein könnte. Dennoch muss gesagt werden, dass unsere Haltung, unser Bezug zu Zeitdauer per se nostalgisch ist, da es eine Verlusthaltung ist, nicht genug davon zu haben, sie zu verlieren, fortwährend Vermögen zu verlieren, zu wenig effizient zu sein, zu viel Arbeit zu haben, zu viele Verpflichtungen, während es in der fernen Vergangenheit doch einen Zeitpunkt gegeben haben muss, an dem ein Überfluss an Optionen und Möglichkeiten geherrscht hat. Frag mich nicht warum, aber irgendwie funktioniert unsere kulturelle Logik so, dass diese panoramaartige Synthese der Zeit aufgrund der Effizienz tatsächlich aus dem Blick gerät. Der zwangsläufige Nebeneffekt all dessen ist, wie gesagt, eine Art nostalgische Empfindung, dass es vor langer Zeit eine panoramaartige Betrachtung der Zeit gegeben haben muss, die gewaltig war, allumfassend. Wir befinden uns nun in einer Atomisierung der Zeitdauer durch die Uhr. Das ist genau der Gedanke hinter der Arbeit: Das Spektakel dauert ewig. Die Frage, die Olympia evozieren soll, ist: Wie lang ist die Dauer der Zeit? Tausend Jahre sind nichts, verglichen mit den 56.000 Jahren, in denen die Menschheit noch das uns bekannte Klima genießen darf, bevor es eine neue Eiszeit geben wird. Wenn man die biologische Lebensspanne des Menschen vergleicht mit einem Zeitraum von tausend Jahren, dann sollte uns das demütig machen. Allerdings gilt dasselbe, wenn man tausend Jahre mit zyklischer Zeit vergleicht. Die Zeiten, in denen ich lebe, sind perfekt, da die Menschen eine echte Abneigung haben gegen Ineffizienz, Langeweile und Richtungslosigkeit. Ich umarme alles, was von der Fortschrittskultur abgelehnt wird.
Wie gehst du persönlich mit der Tatsache um, dass du als Künstler eine deiner eigenen Arbeiten nicht mehr als vollendetes Werk erleben können wirst?
Nun ja, ich muss mir einen anderen Ansatz angewöhnen, um die Arbeit zu archivieren. Normalerweise würde ich versuchen, für zukünftige Generationen so viel wie möglich auf Papier festzuhalten: die technischen Details, die Idee hinter der Arbeit, den Spirit, um den Interpretationsspielraum so klein wie möglich zu halten. Diesmal merke ich, dass das nicht möglich ist, da ich keine Ahnung habe, wie sich unsere Software in den nächsten fünf Jahren entwickeln wird, geschweige denn in den nächsten 25 oder bis zum Ende meines Lebens. Also muss ich Olympia auf andere Weise festhalten. Ich muss es eher wie einen Zwischenstand niederschreiben und versuchen, nicht zu wortgetreu mit formalen Aspekten umzugehen, z. B. der Projektionsgröße oder der Umgebung, in der die Arbeit gezeigt wird. Denn ich habe ja keine Vorstellung davon, welche Menschen diese Arbeit später weiterentwickeln werden.
Olympia wird deutlich länger leben als wir…
Wenn ich die Arbeit nicht überlebe, ist sie ein Erfolg. Stell dir mal vor, worüber die Menschen, die die Arbeit fortsetzen, wohl diskutieren werden. Sie werden dieselben Dinge diskutieren, die wir hier oder während des Entwicklungsprozesses besprochen haben – das ist ein tröstender Gedanke. Die Arbeit wird dann natürlich stark gewachsen sein, aber die wesentliche Zutat, mit der man arbeiten wird, wird immer noch das Vergehen von Zeit sein.
Die Weiterentwicklung von Olympia hängt von vielen Faktoren ab – nicht zuletzt von der zur Verfügung stehen- den Software.
Ja, aber auch bei der Restaurierung gibt es einen großen Unterschied. Wir wissen, dass viele zeitgenössische Kunstwerke viel früher als erwartet restauriert werden müssen, aber in diesem Fall ist die Restaurierung genau das, worum es bei der Arbeit geht. Es geht darum, die Auswirkung von Wetter, Klima usw. auf etwas zu beobachten. Bei diesem Werk handelt es sich also um fortwährende Restauration. In gewisser Weise ist das eine Erleichterung. Die größte Sorge bereitet mir die Änderungen der Plattform. Wir arbeiten derzeit mit einer bestimm- ten Softwarearchitektur, doch jedes Jahr gibt es bei dieser Software eine Revolution, und wenn man fünf oder tausend Jahre in die Zukunft blickt, ist das unvorstellbar. Olympia ist auch als Kommentar zu verstehen zu unserem Verhältnis zu Software und dem Verhältnis zwischen Software und Utopien: die tatsächliche Auswirkung von Soft- ware auf Leben. Momentan habe ich keine sehr optimistische Sicht auf die Integration von virtueller Realität in die biologische Realität. Was Software und Utopien gemeinsam haben, ist, dass sie beide mit einem Code geschrieben und verschlüsselt werden, der die Dinge erleichtert, zugleich aber keinen wirklichen Zugang ermöglicht. Eine Software kann nur existieren und effizient sein, wenn wir keinen Zugang zu ihrem Quellcode haben. Also erledigt sie Dinge für uns, bei denen wir eine manuelle Intervention für unmöglich halten. Für die Utopie gilt dasselbe.
Tausend Jahre sind letztlich auch eine Utopie. Mit der von dir gewählten Dauer stellst du einen direkten Bezug zum „Tausendjährigen Reich“ her.
Utopia ist eine bestimmte Formel und das Tausend-Jahre-Konzept ist eine gewisse Formel, zu der wir keinen Zugang haben, von der wir, wenn man drüber nachdenkt, eigentlich wissen, dass sie Bullshit ist, die aber dennoch, ein bisschen wie bei Drogen, „übermenschliche“ Ereignisse und Charaktereigenschaften ermöglicht. In Olympia treffen zwei Welten aufeinander: Einerseits die menschliche, die gelebte Zeit, also der Prozess des Alterns, Vergänglichkeit, Wachstum der Vegetation, Wettereinflüsse etc, und andererseits die ideologische Zeit, also utopistische Erzählungen, die Menschen erfinden können, wie zum Beispiel ein tausendjähriges Reich, bei dem es sich um eines dieser großen Konzepte der mittleren Moderne handelt. Doch die Schwäche sowohl von Software als auch von Utopien ist, dass es sich um Bilder handelt. Sie haben all die Schwächen eines Bildes, in dem Sinne, dass sie nur funktionieren, solange die Fassade intakt ist. Software funktioniert, solange das Interface funktioniert. Das Interface ist die Fassade. Utopia funktioniert nur, solange die positive Energie, die es umgibt, funktioniert.
Utopien und Software haben also Gemeinsamkeiten?
Es gibt eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Gehen wir ein wenig zurück, siebzig, achtzig, neunzig Jahre, und betrachten wir, weshalb die Menschen damals radikale Annahmen akzeptierten und sich dem Totalitarismus hingaben. Was machte diese Visionen so attraktiv? Die Vision einer egalitären Gesellschaft ist das, was das Dritte Reich verursacht hat, das was Stalin ermöglicht hat, aber auch das, woraus Software entstanden ist. Ich neige zu dem Gedanken, dass Software eines dieser großen egalitären Versprechen ist, die nicht an Schwung verloren haben.
Auch hier beschreiben wir eine Vision. Der ganze Traum vom Internet und vom Teilen einer Kultur im Internet hat dieselbe Abstammung wie mechanische Versionen egalitären Gedankenguts, und es gibt eine Spannung zwischen den neuen Men- schen, die an der Macht sind, und einer fortwährenden, aufrichtigen Hoffnung auf Neuverteilung.
In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass es sich bei Olympia um eine Echtzeit-Projektion handelt.
Für mich war es aus vielen Gründen entscheidend, mit einer Echtzeit-basierten Struktur zu arbeiten. Das Publikum wird animiert, wiederzukommen. Wenn es stark regnet, kommen die Leute ins KINDL, um diesen Ereignis mitzuerleben. Wenn es zu schneien anfängt, gehen sie nicht raus ins Olympiastadion, um sich den Schnee an- zuschauen, sie kommen dazu ins KINDL. Wäre es nicht wunderbar, wenn wir ernsthaft sagen könnten: Was ich mit meinen eigenen Augen sehe, wenn der Schnee in das Olympiastadion fällt, ist genau das Gleiche, was jemand in China sieht, wenn er den Schnee in Olympia betrach- tet? Und das bringt mich zu einem anderen Punkt, doch vielleicht schweifen wir zu sehr ab: Es geht um den Traum einer gemeinsamen, simultanen Betrachtung, in Einklang, ohne Gefahr und Paranoia, dass wir verrückt geworden sind, und dass wir unsere eigenen individuellen Versionen sehen, inkompatibel mit denen unserer Nachbarn. Die Angst vor einer inkompatiblen Sicht treibt die Software voran und das war schon immer so. Eine Sicht zu ermögli- chen, die in den Köpfen aller Personen, die eine bestimm- te Sache betrachten - zum Beispiel den Schnee in Olympia - übereinstimmt. Dies würde den Schnee in Olympia attraktiver machen als den echten Schnee.
Lass uns nun noch kurz über die Installation von Olympia im Kesselhaus des KINDL sprechen, einem würfelförmigen Raum mit einer Höhe von rund 20 Metern.
Wie hast du die spezifischen Bedingungen des Raums erlebt und welche Bedeutung hatte das für die Präsen- tation der Arbeit?
Nun, der Raum ist irgendwie überwältigend – und doch zugänglich. Der Grund für seine Zugänglichkeit ist sein verfallener Zustand, dass er quasi als Ruine erhalten wurde, als Ort, der noch ziemlich genau so aussieht, wie die Menschen ihn hinterlassen haben, als sie die ganzen Maschinen entfernten. Man spürt noch immer das Ende einer gewissen Aktivität – und danach folgt nur noch Leere, ein riesiger Würfel der Leere. Die Leere hilft, dem Raum das Gefühl der Zugänglichkeit zu verleihen. Aber die Größe ist natürlich beeindruckend.
Und gleichzeitig wohl auch eine Gefahr?
Ja, als wir im Studio bei unseren Berechnungen auf eine über zwölf Meter breite Projektionsfläche kamen, war ich mir nicht sicher, ob es sich um einen Fehler handelte, doch wenn man es sich nun anschaut, wirkt die riesige Leinwand fast schon bescheiden in diesem Raum. Diese Entscheidung war das Einzige, was mir wirklich Sorgen bereitete. Und nun bin ich überzeugt, dass die gewählten Proportionen, dass die Größe richtig ist. Ich hatte Respekt davor, denn ich habe oft darüber nachgedacht, was ich tun würde, wenn mich jemand darum bitten würde, die Turbine Hall in der Tate zu bespielen. Dann kamst du und hast mich darum gebeten, etwas im Kesselhaus zu machen, das ja ein paar ähnliche Eigenschaften hat. Meine erste Reaktion war Panik. Ich muss hinzufügen, dass ich den Monumentalismus des Olympiastadions von Anfang an mit dem Gefühl bekämpfte, sehr klein zu sein, wie ein Hippie in einer äußerst prachtvollen Umgebung. Ich glaube, dass die erfolgreiche Verbindung eines solchen Raumes wie dem Kesselhaus mit Olympia nur gelingen konnte, weil ich mich auf das sehr Kleine und äußerst Unwichtige konzentrierte. Hätte ich mich mit dem Olympiastadion lediglich vor dem Hintergrund seiner Bedeutung, Monumentalität und Theatralik beschäftigt, wäre ich mit diesem Projekt auf ganzer Linie gescheitert. Ich musste wirklich nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner suchen, nämlich den wachsenden biologischen Elementen, die unabhängig von menschlicher Intervention existieren.
Besteht für dich eine Beziehung zwischen den Besonderheiten des Kesselhauses und der monumentalen Architektur des Olympiastadions?
In erste Linie hat das mit den Proportionen zu tun. Die Brauerei wurde Ende der 1920er-Jahre gebaut. Zu der Zeit gab es bereits, architektonisch betrachtet, ein großes Vakuum im Verhältnis zur Kirche und zu Sakralbauten. Heute würden wir es als Parodie betrachten, doch in der Brauerei mit ihrem Turm, dem Sudhaus und dem Kesselhaus kam das unter anderem zurück. Die Braue- rei ist natürlich ein postindustrieller freier Raum. Es handelt sich aber offensichtlich um ein klassisches Beispiel für die neue Richtung einer alten Ambition. Was sowohl die industrielle als auch die postindustrielle Ära überlebte, sind einfache Bilder – zum Beispiel die Ähnlichkeit der Brauerei mit einem Sakralbau.
Es ist interessant, sich mit der überwältigenden, makellosen Architektur des Olympiastadions in einem von Narben durchsetzten Raum – oder wie du es genannt hast: in einer Ruine – wie dem Kesselhaus zu beschäftigen.
Das ist die Rhetorik des architektonischen Selbstbewusstseins. Das findet man auch in der Brauerei. Es gibt ein gewisses Gefühl von Dauerhaftigkeit in dem Backsteingebäude.
Die Verantwortung für diese Arbeit, für Olympia, ist etwas, dass dich auch weiterhin beschäftigen wird, ja, dass dich wohl den Rest deines Lebens begleiten wird. Gleichzeitig hat Olympia aber auch – wenn ich das so formulieren darf – ein eigenes Leben.
Das kann man so sehen, ja. Jede Woche entdecken wir beim Betrachten der Bilder ein paar Dinge, die in der Nacht vom Computerprogramm gemacht wurden. Dinge, deren Existenz sich niemand hätte vorstellen können. Anfangs waren das hauptsächlich Fehler, aber jetzt entdecken wir auch Wunder. Wunder des Lichts und der Re- flexion, und es zeigen sich gewisse Dinge, etwa Effekte im Gras. Es hat sein eigenes Leben. Es ist ein Balanceakt zwischen Enttäuschung und Wunder. Als Vater bin ich froh, dass das Baby am Leben ist, doch niemand hat mir gesagt, dass ich es jeden Tag füttern muss. Und dann gibt es immer wieder Wunder.
Kannst du ein solches Beispiel nennen?
Wenn ich früh aufwache und dann morgens um 5 Uhr den Sonnenaufgang betrachte, dann nach unten ins Studio gehe und den Bildschirm anschalte, um mir in Echtzeit anzugucken, was in Berlin passiert. Es ist ein bisschen so, als würde man einen Riesen beim Schlafen betrachten. Das ist Olympia.
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